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Sonntag, 21.08.11:
Hinter uns liegt eine turbulente, aber schöne Woche. Vor knapp zwei Wochen kam unsere Freundin Heike aus Deutschland hier an, um ihren Sommerurlaub bei uns zu verbringen und mit uns eine Kinderbibelwoche durchzuführen. Als Lehrerin brachte sie nicht nur viel Erfahrung und Liebe für die Kinder mit, sondern auch eine Menge Ideen, Spiele und Bastelmaterial. Und so fand in der vergangenen Woche in unserer Hütte für die Kinder des Kinderheims und der Nachbarschaft ein besonderes Programm statt. Es stand unter dem Motto: Die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Am ersten Tag erzählten wir die Geschichte von der Schöpfung und der ersten Zeit der Menschen mit Gott, die bestimmt war von perfekter Harmonie und Einigkeit. Wir malten verschiedene Elemente der Schöpfung, und anschließend batikten die Kinder und bastelten ein Spiel. Am zweiten Tag erzählten wir die Geschichte vom Sündenfall, der in einer schmerzhaften Trennung des Menschen von Gott resultierte. In kleinen Gruppen spielten die Kinder dann die Geschichte nach und bewiesen dabei eine enorme Kreativität. Am dritten Tag sollte eine Geschichte von einem kranken und in Quarantäne untergebrachten Mädchen den Schmerz der Trennung verdeutlichen. Die Trennung von Gott ist für ihn genauso schmerzhaft wie für den Menschen, weshalb er selbst in der Menschwerdung, dem Tod und der Auferstehung Jesu eine Lösung gefunden hat. Auch an diesem Tag wurde wieder gebastelt. Am vierten Tag zeigten wir anhand einer modernen Fassung der Geschichte des verlorenen Sohnes auf, dass ein Zurück für den Menschen in die harmonische Beziehung zu Gott möglich ist, wenn er Vergebung sucht und erfährt. Am späteren Vormittag dieses Tages besuchten Toussaint und Heike mit den Kindern das Heimatmuseum von Natitingou und am Nachmittag backten wir alle zusammen Kekse. Am letzten Tag erzählten wir die Geschichte einer kleinen Larve, die sich verpuppte und zum Schmetterling wurde. Dann übertrugen wir diese Geschichte auf uns, denn auch wir werden eines Tages verändert werden und hinauf fliegen in den Himmel, wo dann wieder eine perfekte und harmonische Gemeinschaft mit Gott auf uns wartet. Im Anschluss daran bastelten die Kinder noch Lampions aus alten Blechdosen. Jeder Tag begann mit Liedern. Dank einer Spende konnten wir die Kinder die ganze Woche über am Vormittag mit einem Frühstück versorgen. Nachmittags waren dann Sport und Spiele im Freien angesagt.

 



 


 
Es war schön zu sehen, wie die über 20 Kinder sich im Laufe der Woche veränderten. Ein Mädchen, das sehr verhaltensauffällig ist und sich anfangs immer in einer Ecke oder hinter einem Stuhl versteckte, war zum Schluss immer mitten im Gewühle. Kinder, die andere ständig schlugen oder anschrien, spielten nach einigen Tagen friedlich miteinander. Ein Nachbar, dessen vier Kinder ebenfalls teilnahmen, kam um sich bei uns zu bedanken und um uns zu sagen, wie gut die Woche seinen Kindern getan hatte. Am Samstagabend feierten wir dann noch ein Abschlussfest auf unserer Terrasse, mit Popcorn, Wassereis und den von den Kindern selbstgemachten Keksen. Die Kinder sangen noch einmal alle Lieder, die sie während der Woche gelernt hatten, und hatten außerdem einige Sketche vorbereitet. Es war ein sehr fröhlicher Ausklang einer tollen Woche. Nächste Woche werden wir dasselbe Programm in der Gemeinde Natitingou durchführen.
 


 
Sonntag, 07.08.11:
Loyalität. Dass dieser Wert ganz oben steht in der Werteskala der Otammari wussten wir von unserer Recherche.
Doch was das letztlich bedeutet, welche anderen Werte dabei auf der Strecke bleiben können mussten wir jetzt erleben. Folgende Geschichte hat sich in den vergangenen zwei Tagen ereignet. Sie handelt von einer guten Bekannten von uns, einer Christin, nennen wir sie Lucia. Sie hat, wie viele Frauen in diesem Land, ein Mädchen aus der Verwandtschaft als Haushaltshilfe bei sich aufgenommen, für Kost, Logis und ein Taschengeld. Es gab in der Vergangenheit immer wieder Spannungen zwischen Lucia und diesem Mädchen im Teenageralter, und bereits mehrfach wurde das Mädchen deshalb von ihr über die Maßen verprügelt. Am vergangenen Freitag ist die Situation wieder eskaliert. Lucia verlor die Beherrschung und schlug das Mädchen und verletzte sie dabei. Wie stark und auf welche Weise, da gehen die Berichte auseinander. Jedenfalls ging Lucia anschließend aufs Feld und das blutende Mädchen wurde von anderen Mädchen aus der Nachbarschaft zur Polizeistation begleitet, wo sie gegen Lucia Anzeige erstattete. Als diese vom Feld zurückkam, wurde sie von der Polizei abgeholt und kam 24 Stunden in Gewahrsam. Am Samstagabend wurde sie wieder nachhause entlassen, im Laufe der Woche wird der Fall verhandelt werden.
Das alleine ist schon eine erschreckende Geschichte, und insoweit sind sich die Kulturen auch noch einig. Doch jetzt kommt der Unterschied: Gestern wurde ich Ohrenzeugin, wie diese Geschichte von mehreren Frauen kommentiert wurde. Eine Frau, nennen wir sie Augustine, war besonders aufgebracht. Sie lebt in unmittelbarer Nachbarschaft von Lucia und steht seit langem mit dieser in einem unguten Verhältnis. Als Lucias Mann sie am Freitagabend sah, beschuldigte er sie, das Mädchen zur Polizei gebracht und so die Festnahme seiner Frau verursacht zu haben. Augustine versichert jedoch, dass sie den ganzen Tag unterwegs gewesen war und erst am Abend von den Vorkommnissen erfahren hatte. Sie konnte gar nicht aufhören, ihre "Unschuld" zu beteuern und war sehr erbost, dass man sie so "beschuldigte". Irgendwann musste ich den Redefluss stoppen, weil mir irgendwie nicht klar war, was denn daran so schlimm wäre, wenn sie dem Mädchen tatsächlich geholfen hätte. Immerhin handelte es sich hier um eine Misshandlung, und wäre es da nicht ihre Christenpflicht, helfend einzugreifen ??? Selbst wenn es nicht stimmte, so wurde sie doch eigentlich einer guten Tat beschuldigt, oder hatte ich da irgendwas falsch verstanden? Offensichtlich, denn ich erntete einen Aufschrei der Empörung. Und so fragte ich nach: Wenn sie dagewesen wäre, hätte sie nicht eingegriffen? Die Antwort aller Frauen war erschreckend: "Niemals!" Lucia und Augustine kommen aus demselben Ort und trotz der Streitigkeiten zwischen ihnen verbietet es die Loyalität, Lucia der Polizei auszuliefern. Ich hakte nach: Was ist mit dem Gebot Gottes, dass wir für die Unterdrückten und Schwachen einstehen sollen? Gilt das hier nicht? Die Frau eines Evangelisten, eine Frau vor der ich große Achtung habe und von der ich viel lerne, sagte zu mir resigniert: "Du praktizierst die Bibel, wir hier praktizieren die Tradition." Das Gebot der Loyalität gegenüber einer Person aus dem gleichen Dorf wiegt schwerer als das Gebot der Nächstenliebe gegenüber einem unterdrückten, misshandelten Mädchen. Diese Erkenntnis muss ich erst mal verdauen und dann zusammen mit anderen darüber nachdenken, wie diese Werteskala in die biblische Reihenfolge gebracht werden kann.