Samstag 21.01.12:
Die ersten Wochen des neuen Jahres dürften so ziemlich die schwierigsten gewesen sein, die wir seit langem durchgemacht haben.
Unser junger Freund Victor, 17 Jahre alt, ist am Montag, den 16.01. nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben.
"Nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben", das sind Worte, die man oft in Todesanzeigen liest, doch was sich dahinter verbirgt,
weiß nur, wer es miterlebt hat.
Victor war bis zum Schuljahresbeginn 2011 hier im Kinderheim. Bereits seit der Bauphase, während der Toussaint schon jeden Tag
hier war, standen er und Victor sich sehr nahe. Er war sehr aufgeweckt, kontaktfreudig und intelligent, stellte 1000 Fragen und
machte viele Dummheiten. Er war praktisch täglich bei uns, und wenn wir ihn ein paar Tage nicht zu Gesicht kriegten wussten wir,
dass er etwas ausgefressen hatte, das er vor uns verbergen wollte. Victor und seine Brüder sind seit vielen Jahren Vollwaisen.
Nach dem Tod der Mutter wurden die 4 Jungs aufgeteilt, der älteste und der jüngste blieben in Tanguieta, einer Stadt 50 km
nördlich von hier, und Victor und sein Bruder Blaise kamen hierher. Aufgrund verschiedener Umstände beschloss der Älteste,
Jean-Marie, inzwischen erwachsen, im Oktober Blaise und Victor nach Tanguieta zu holen, wo sie in einer Art Wohnheim untergebracht
wurden. Der Umzug wurde recht kurzfristig beschlossen und Victor war ein bisschen unglücklich darüber. Und so luden wir ihn gleich
ein, die Weihnachtsferien bei uns zu verbringen und so seine alten Freunde wieder zu sehen. Im November erfuhren wir, dass er krank
war. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass er Hepatitis B hatte, eine Krankheit, die hier leider sehr viele Menschen in sich tragen.
Sie kann mit konventioneller Medizin nicht geheilt werden, es gibt aber verschiedene Heilpflanzen und auch das Krankenhaus behandelt
mit einem bestimmten Tee. Außerdem muss die Ernährung umgestellt werden. Viele Menschen durchlaufen einmal die Krankheit und haben
dann keine Symptome mehr, sind aber Überträger. Bei Victor jedenfalls kam die Krankheit im November zum Ausbruch, obwohl er sie schon
länger, wahrscheinlich sogar seit Geburt, in sich trug. Da wir nur telefonierten und Afrikaner am Telefon die Frage "wie geht es Dir/ihm"
immer mit "besser" beantworten, auch wenn es der Person total mies geht, wussten wir nicht, wie schlecht es ihm tatsächlich ging.
Wir gingen immer noch davon aus, dass er in den Ferien kommen würde und wir ihn dann aufpäppeln könnten. Erst als die Verantwortlichen
des Wohnheimes uns ausrichten ließen, dass Victor wegen seines Gesundheitszustandes nicht kommen könnte, wurden wir hellhörig und
Toussaint fuhr hin, um ihn zu besuchen. Was er dort sah, schockte ihn zutiefst. Erst einmal war Victor total schwach und abgemagert,
sein Bauch war aufgebläht (die Leber) und es ging ihm richtig schlecht. Er hatte keinen Appetit und aß kaum. Leider war er zwar in
ärztlicher Behandlung und wurde mit Medikamenten bzw. Tee versorgt, doch zuhause kümmerte man sich wenig um ihn und er war sich selbst
überlassen. Für einen kontaktfreudigen und aktiven Menschen wie ihn das absolute Gift. Nach einem weiteren Besuch konnte Toussaint seinen
Bruder Jean-Marie davon überzeugen, dass er bei uns besser aufgehoben wäre, wir auf seine Essenwünsche und auch die erforderliche Diät
besser eingehen könnten und er bei uns sich nicht so einsam fühlen würde und all seine alten Freunde um sich hätte. Der behandelnde Arzt
hatte keine Einwände, da seine Kollegen hier die Überwachung fortsetzen würden und auch die Verantwortlichen des Wohnheimes stimmten,
wenn auch leicht widerwillig, zu, dass er für eine Weile bei uns bleiben würde. Wir stellten uns auf mehrere Monate ein, wohl wissend,
dass die Ausheilung von Hepatitis B sehr lange dauert.
Und so kam Victor am Donnerstag, den 05.01. bei uns an. Wir brachten ihn zuerst in das katholische Krankenhaus nebenan. Sie legten ihn
für eine Nacht an den Tropf, um ihn mit Nährstoffen zu versorgen, und führten verschiedene Untersuchungen durch. Danach durfte er zu uns,
wobei eine befreundete deutsche Krankenschwester sich bereit erklärte, ihn täglich zu besuchen und wenn nötig zu versorgen. Wir hatten
allerdings nicht damit gerechnet, wie intensiv die Betreuung sein würde. Er hatte starke Schmerzen, schlief am Anfang sehr schlecht und
brauchte ständig irgendwas. Einer von uns war ständig damit beschäftigt, nach ihm zu sehen und einer von uns schlief auch bei ihm (meistens
Toussaint). Doch irgendwie ging es. Tagsüber arbeitete ich an dem Tisch neben seinem Bett und die Kinder kamen auch oft zu Besuch, wenn sie
keine Schule hatten. Der Arzt hier machte uns erst Hoffnung, dass es sich um eine Leberzyste oder einen Leberabszess handeln könnte. Doch
nach eingehender Untersuchung kam die niederschmetternde Diagnose: schnell fortschreitender Leberkrebs mit der Prognose, dass er noch max.
1 Monat zu leben hätte. Und so wurde unser Gästezimmer zum Hospiz. Wir waren bereit, ihn bis zum Ende hier zu behalten, mit der Hilfe unserer
Krankenschwester und einiger anderer Personen. Die Kinder und auch er selbst wussten nicht, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Unsere
Krankenschwester besorgte uns Morphium in Tablettenform und ein Beruhigungsmittel für die Nacht und so war er fast schmerzfrei und wir alle
schliefen besser. Er war glücklich, seine alten Freunde um sich zu haben, hatte wieder Appetit, wenn er auch nur sehr wenig essen konnte, da
wegen der riesigen Leber der Magen kaum Platz hatte. Wir verwöhnten ihn, so gut es ging, unterhielten uns viel mit ihm, lasen ihm Geschichten
vor, sahen zusammen Bilder an. Viele Menschen besuchten ihn und beteten mit ihm, von unserer Gemeinde und der benachbarten Pfingstlergemeinde,
in die er oft gegangen war, als er noch im Kinderheim war. Er wusste sich in Gott geborgen und wir beteten oft zusammen. Aus Gründen, die wir
nur schwer nachvollziehen können, entschlossen sich aber die Verantwortlichen nach einer Woche, ihn zurück zu beordern. Sie wollten ihn in
Tanguieta in einem Haus auf dem Krankenhausgelände unterbringen. Und so bereiteten wir schweren Herzens wieder seinen Rück-Umzug vor.
Gleichzeitig verschlechterte sich jedoch sein Zustand ganz rapide. Das Morphium führte zu Übelkeit, er erbrach sich und hatte am Samstagmittag
schließlich einen Blutsturz, am selben Tag, an dem er abgeholt werden sollte. Damit waren wir dann auch an der Grenze unserer Belastbarkeit und
ich wünsche keinem, dass er so was mal erleben muss. Unsere Krankenschwester kam aber gleich (sie war ständig rufbereit!) und half uns in dieser
schwierigen Situation. Nach dem er sich so heftig erbrochen hatte, war er völlig entkräftet und fast bewusstlos. Wir bereiteten ihn auf den
Transport vor, wuschen ihn und kleideten ihn an. Als die Verantwortlichen kamen um ihn abzuholen, war er nicht mehr bei Bewusstsein. Unsere
Krankenschwester wollte sie noch davon überzeugen, ihn hierzulassen, er würde vielleicht die Fahrt gar nicht überleben. Doch sie waren entschlossen,
ihn mitzunehmen. Schweren Herzens ließen wir ihn gehen. Wir waren von unserer Krankenschwester vorgewarnt worden, dass er nicht mehr lange leben
würde, und so nahmen wir bereits Abschied von ihm. Der Trupp kam gut in Tanguieta an, wo er gleich ins Krankenhaus eingeliefert wurde und an den
Tropf kam. Er kam wieder zu sich, erkannte die Menschen um sich herum und fragte dauernd nach Toussaint. Am Sonntag rief Jean-Marie uns mehrfach
an und hielt uns auf dem Laufenden. Victor war mal weggetreten, mal bei Bewusstsein. Wenn er wach war, fragte er immer wieder nach Toussaint.
Außerdem erzählte er den Umstehenden, dass er sich bei Jesus aufgenommen wusste und forderte alle auf, auch mit Jesus zu leben. Er wusste, dass
es mit ihm zu Ende ging. Sonntagabend fragte er aber wieder nach Toussaint und so beschloss Toussaint, am Montagmorgen gleich hinzufahren.
Vielleicht wollte Victor nicht gehen, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben. Als Toussaint dort ankam, war Victor ansprechbar, aber unruhig
und schwach (er hatte am Abend vorher noch einen Blutsturz gehabt). Als er Toussaint erkannte und dieser beruhigend auf ihn einsprach, wollte
er etwas sagen, es kam aber nur Röcheln. Toussaint sagte ihm er solle schlafen und sie könnten später reden. Daraufhin wurde er ganz ruhig,
atmete aus und verstarb, keine 10 Minuten nachdem Toussaint angekommen war.
Soweit die Fakten, der Ablauf der Ereignisse. Was sich in unserer Gefühlswelt in dieser Zeit abspielte und noch abspielt, lässt sich nicht in
Worte fassen, aber ich denke, Ihr könnt Euch das Auf und Ab ein Stück weit vorstellen. Wir sind unendlich traurig, dass Victor so schnell
gestorben ist. Und wir sind froh, dass er nur so kurz leiden musste.
Wir sind ausgelaugt nach diesen 10 Tage der Pflege und sind glücklich,
dass wir ihn noch eine Zeit bei uns haben durften. Die Fratze des Todes erschreckt uns, und sein friedliches Sterben in Christus macht uns
ruhig. Gott hat ihn nicht wundersam geheilt, doch Gott hat in dieser Zeit an uns allen viele Wunder vollbracht. Unzählige Menschen auf der
ganzen Welt waren vereint im Gebet. Und es dauert noch an - Fragen brechen auf, Menschen machen sich auf die Suche nach der Hoffnung und dem
Frieden, in dem Victor gestorben ist.
Victor ist mit der Gewissheit auf ewiges Leben gestorben und blieb daher im Tod seinem Namen (Victor lat. für Sieger) treu,
in Christus bleibt er Sieger!