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Montag, 22.03.10:
Seit Beginn des zweiten Schulhalbjahres vor 6 Wochen streiken die Lehrkräfte. Worum es genau geht weiß ich nicht und will es eigentlich auch gar nicht wissen. Wahrscheinlich um irgendeine Prämie oder Sonderzahlung, die die Regierung bisher nicht gezahlt hat. Dieses Spiel wiederholt sich jedes Jahr für ein paar Wochen. Doch dieses Jahr dauert der Streik länger als gewöhnlich und die Fronten sind so verhärtet, dass keine Lösung in Sicht ist. Dazu kommt, dass Anfang nächsten Jahres Präsidentenwahl ist und die Vorbereitungen dafür bereits angelaufen sind. Somit wird dieses Problem zum Wahlkampfthema gemacht, was die Einigung zusätzlich erschwert. Wenn jedoch nicht bald der Schulbetrieb wieder aufgenommen wird, wird das Schuljahr annulliert ("année blanche"), d.h. die Kinder verlieren ein Jahr und müssen alle die Klasse wiederholen. Für die Eltern bedeutet es ein Jahr länger Schulgeld zahlen. Was mich dabei besonders ärgert ist die Tatsache, dass die Kinder der Politiker und Gewerkschaftler nicht darunter zu leiden haben, sie gehen natürlich alle auf Privatschulen.
[ Neues zum Schuljahr im Bericht 21.06.2010 | Seite 47 ] .
 
Freitag, 19.03.10:
Es wird Zeit, dass ich Euch von Onkel Daniel erzähle. Seit wir umgezogen sind wohnen wir in seiner Nähe und sehen ihn fast täglich. Onkel Daniel ist in vieler Hinsicht etwas Besonderes. Er hat nie geheiratet und hat, soweit wir wissen, keine Kinder, was sehr ungewöhnlich ist. Er ist in seinem Leben viel gereist und hat auch einige Zeit an der Elfenbeinküste gelebt. Nun ist er alt und lebt alleine und will das glaube ich auch nicht anders. Er ist der jüngere Bruder meiner Schwiegermutter, also Toussaints Onkel mütterlicherseits. In der Kultur der Waama (Toussaints Volksgruppe) hat der Onkel mütterlicherseits fast mehr zu sagen als der eigene Vater, ihm gebührt also höchster Respekt. Da er aber ein Einzelgänger, ein bisschen auch ein Eigenbrödler ist fühlt sich von Toussaints Geschwistern keiner berufen, sich um Onkel Daniel zu kümmern und für ihn zu sorgen. Er selbst gehört zu der Sorte Mensch der nie aufhören kann zu arbeiten, solange es noch irgendwie geht. Und so belädt er jeden Morgen sein altes Fahrrad mit Hacke, Machete und Eimer und zieht los, um die Straße zu richten. Äste, die in die falsche Richtung wachsen haut er ab, damit die Durchfahrt ungehindert ist. Gras, das am Straßenrand wuchert, schneidet er. Rillen und Löcher,
gegraben vom abfließenden Regenwasser füllt er wieder auf. Tag für Tag, außer Sonntags. Niemand bezahlt ihn dafür. "Die Straße gehört uns doch allen" sagt er nur. Jeder hier im Viertel kennt ihn und mancher gibt im ab und zu etwas Geld für seinen Straßenwärterdienst, damit bestreitet er seinen mageren Lebensunterhalt. Wir haben ihn oft eingeladen, doch mittags zu uns zum Essen zu kommen, doch das ist ihm unangenehm. Er nennt mich immer noch „Madame“ und hat offensichtlich große Ehrfurcht vor mir, die Nachwehen der Kolonialzeit. Doch unsere Gaben nimmt er mit Freuden an, sei es nun eine Geldmünze fürs Abendessen, neue Schuhe oder ein neues Kleidungsstück. Und wenn wir ihm eine besonders große Freude gemacht haben erzählt er allen Vorbeikommenden, dass er zwar eine große Familie hat, aber nur einen echten Sohn, Toussaint.
 
Dienstag, 16.03.10:
Für unsere Forschungsarbeit über das Leben, die Geschichte und die Tradition der Otammari führe ich zurzeit viele Gespräche über Familie, Familienkonstellationen, die Verhältnisse der einzelnen Glieder untereinander usw. In diesem Zusammenhang erzählte mir ein Freund aus Boukombé die Geschichte seiner Familie: "Vor vielen Jahren, als noch Krieg herrschte zwischen den einzelnen Dörfern, gab es einen mächtigen Krieger, der versuchte, all unsere Helden auszulöschen. Die Bevölkerung wandte sich den Fetischen zu und brachte Opfer über Opfer um herauszufinden, was sie tun sollten, um ihn zu stoppen. Die Antwort war, dass der Krieger irgendwie dazu gebracht werden musste, unsere Familie zu provozieren und wir würden ihn dann töten. Unsere Familie ist eine Familie von Hellsehern, wir haben also übernatürliche Kräfte. Eines Tages, als unsere Leute im Yamsfeld waren, beobachtete der Krieger sie von einem Versteck aus. Doch einer meiner Vorfahren "sah" ihn. Er zielte mit seinem Pfeil auf den Erdhügel, hinter dem der Krieger sich versteckte. Der Pfeil ging durch den Erdhügel hindurch und traf den Krieger am Fuß. Er wurde verletzt und so konnten unsere Männer ihn ergreifen und töten. In solchen Fällen war es üblich, ein Gliedmaß des Getöteten abzutrennen und mit nachhause zu nehmen. Sie trennten also den Arm des Kriegers mit all seinen Armbändern und Talismanen ab und nahmen ihn mit nachhause. Bald darauf fingen verschiedene Familienmitglieder an, über Unpässlichkeiten zu klagen. Man fragte die Geister nach der Ursache und diese sagten, dass man dem getöteten Krieger einen Kegel aus Ton errichten müsse, wie wir ihn für jedes Familienmitglied vor unseren Häusern haben. Und so wurde für den getöteten Krieger ein Kegel neben den Kegeln unserer Vorfahren gebaut. Diese Kegel sind der Familienaltar, hier werden alle Opfer gebracht. Jedes Mal wenn unsere Familie nun ein Tier auf dem Familienaltar opferte fiel auch etwas davon auf den Kegel des Kriegers. Jedes Mal wenn für eines der Kinder eine Zeremonie durchgeführt wurde, tropfte Blut auf den Altar des Kriegers, was dann Konsequenzen für dieses Kind hatte. Damit hatten wir ein Riesenproblem geschaffen. Unsere Familie gedeiht nicht.

Keiner meiner Onkel hat Söhne, sie haben alle nur Töchter. Wenn ein Sohn geboren wird, lebt er nicht lange. Diejenigen die überleben, entwickeln sich zu Taugenichtsen. Meine Brüder leben in Konflikt mit dem Gesetz oder sind Trunkenbolde. Aufgrund dieser Geschichte sagte unser Vater als wir erwachsen wurden: "Wenn ihr jetzt in die Welt hinausgeht, spielt nicht die Helden. Tötet niemanden, nehmt euch nicht die Frau eines anderen. Wenn ihr einen besseren Weg findet als wir, dann geht ihn." Mein Vater kannte den wahren Gott nicht und hatte auch keine Ahnung von den Zehn Geboten, trotzdem wies er uns den Weg dahin. Deshalb bin ich heute Christ und folge Christus nach. Ich muss mit den Traditionen brechen, damit meine Kinder nicht unter diesem Fluch, der auf unserer Familie lastet, zu leiden haben. Im Namen meiner Kinder wird kein Blut mehr auf den Kegel des Kriegers tropfen."